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Das Gedächtnis der Schwalben – Eine Geschichte über Flucht und Exil von Jameel Juratly

Ein Text aus der Reihe Deutschlerner aus aller Welt schreiben von Jameel Juratly

Jameel Juratly ist 52 Jahre alt und stammt aus Homs in Syrien. Seit Oktober 2015 lebt er mit seiner Familie in Deutschland. In seinen Geschichten erzählt er von seinen Erlebnissen und Erinnerungen, von Flucht und Exil.

Zugvögel haben zwei Zuhause – Wie die Schwalben jedes Jahr wieder den Flug in den Süden antreten, so wie es ihre Familienangehörigen schon seit Generationen machen, so gehen meine Gedanken und meine Sehnsucht immer wieder dorthin zurück. Genau dahin, wo das Haus gestanden hat. Wo Kinder gespielt haben, der alte Mann auf seinem Balkon gestanden hat.

Jameel Juratly

Das Gedächtnis der Schwalben

Während der Kriegsjahre in Syrien hatten die Schwalben darauf bestanden, jedes Jahr an denselben Ort zurückzukehren, trotz der großen Wahrscheinlichkeit, dass die Gebäude dort jederzeit zerstört werden könnten oder bereits dem Erdboden gleichgemacht waren.

Diese kleinen schwarzen Vögel mit weißem Bauch und mit dem gegabelten langen Schwanz haben ein gutes Gedächtnis, das sie zu den alten Nestern führt, von denen jedoch ein großer Teil aufgrund der Bombenangriffe und der Zerstörung von Gebäuden verschwunden ist.

Hier haben wir es mit Generationen von Rauch- und Mehlschwalben zu tun, die sich wie Menschen vermehren und Familiengeschichten und Abstammungslinien haben. Das wirklich Seltsame ist, dass diese Zugvögel in die Länder, in denen Krieg herrscht, zurückkehren wollen.

Schnelle Schwalben kreuzen vor den Balkonen und schreien im Moment der Ankunft wegen der großen Veränderung vor Ort. Viele Gebäude wurden auch abgerissen. Der Ort liegt zu großen Teilen in Schutt und Asche, und die Nistmöglichkeiten für die Schwalben sind stark eingeschränkt. Die Nester vom Vorjahr sind oft nicht mehr vorhanden.

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber jeder Krieg macht eine Wüste!

Hier wohnten die drei Kinder, die täglich Ball spielten, jetzt gibt es dort nur noch die Überreste von hohen Eukalyptusbäumen, die durch Bomben zu Asche zerfallen sind.

Die Schwalben müssen neue Wohnorte und Nester suchen, was die Schwalben jedoch traurig macht, da sie eine gute Beziehung zu den hier lebenden Menschen aufgebaut hatten.

Wo ist der einsame, alte Mann, der jeden Tag geweint hat, als er auf den Balkon gegangen ist?
Ist der Kranke in dem Haus mit dem Garten gestorben, nachdem seine Familie so viel auf sich nehmen musste, um ihm seine täglichen Medikamenten zu besorgen?

Die kleinen, schwarzen Schwalben suchen nach den Menschen, die sich an diesen Orten befanden, aber der Kontakt zu den Menschen scheint schwieriger geworden zu sein.

Rauch- und Mehlschwalben sind Kulturfolger und damit an menschliche Siedlungen als Lebensraum gebunden.

Können die neuen Bewohner dieses Gebiets von den Schwalben beruhigt werden, damit sie diese nicht feindlich betrachten, weil sie von außerhalb der Grenzen kommen?

Schwalben steigen hoch in die Lüfte, so dass sie die Menschen sehen können, die sie kennen und mit denen sie sich in den vergangenen Jahren angefreundet haben. Doch was sie sehen, führt bei den Tieren zu großer Verstörung.

Viele Fragen wurden in der Teambesprechung der Schwalben gestellt. Sie waren überzeugt, dass die drei Kinder, die in der Nachbarschaft gelebt hatten, Opfer der Zerstörung und Verwüstung geworden waren, die sie gesehen hatten.

Gleiches galt für den alten Mann, der früher Futter und Wasser für die Vögel bereitgestellt und klassische Musik gehört hatte. Er muss gestorben sein, weil der Balkon, auf dem er saß, zerstört ist.

Auch die Schwalben wurden zu Flüchtlingen in Nestern zwischen den herabgestürzten Mauern und heruntergekommenen Wänden. Da waren keine Menschen mehr, die Körner auf die Fensterbänke streuten, damit sich die neu angekommenen Schwalben stärken und vom Reisen erholen konnten.

Die ortstreuen Schwalben, die aus Europa auf der Suche nach Wärme in den Nahen Osten kommen, müssen sich beruhigen und die schrecklichen Tatsachen akzeptieren, von denen sie überall überrascht werden.

Dies hindert die kleinen schwarz-weißen Vögel jedoch nicht daran, ihre üblichen Symphonien zu spielen, wenn sie durch die Luft fliegen. Auch sie müssen sich diesen neuen Gegebenheiten anpassen. Die Vögel singen, als wollten sie die Opfer trösten, die unter den Trümmern gestorben sind, aber sie sind auch mit dem Bau neuer Nester beschäftigt, die sie an Haus- und Stallwände kleben.

Die Sommerboten sollen den nächsten Sommer machen und Glück bringen.


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4 Kommentare

  1. Jameel, die Trauer schwingt immer mit in Deinen Texten. Ich könnte meine Sehnsucht nach meiner Heimatstadt ja sofort erfüllen, es ist Berlin. Bei Dir sieht es anders aus. Wenn Du noch liebe Menschen zurückgelassen hast, ist es sehr traurig. Ich wünsche Dir, dass Du nicht zu enttäuscht bist, wenn Du mal nach Syrien zurückkehrst.

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