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Ist die Übersetzung eine Schöpfung? – Von Amir Sohi

Übersetzung und Schöpfung

Ist die Übersetzung eine Schöpfung?

Ein Text von Amir Sohi aus Teheran, Iran

Die Arbeit des Übersetzers folgt klaren Regeln. Der Übersetzer muss jede Annäherung vermeiden und dem Originaltext, sei er literarisch oder technisch, treu bleiben. Aber gibt es nicht, auch wenn die Fantasie in diesem Bereich wenig geschätzt wird, dennoch auch einen kreativen Teil bei jeder Übersetzungsarbeit? Ist eine Übersetzung nicht auch eine Schöpfung des Übersetzers?

Übersetzen heißt, sowohl den Sinn als auch den Stil zu erkennen und in einer anderen Sprache wiederzugeben. Um dem Original so treu wie möglich zu bleiben, wendet der Übersetzer unterschiedliche Prozesse an. Die der Quellsprache nächste Übersetzung scheint die wortwörtliche Übersetzung zu sein. Diese Lösung, die die einfachste zu sein scheint, wird auch in der maschinellen Übersetzungssoftware oder bei computergestützten Übersetzungen verwendet. Obwohl diese Art der Übersetzung für einfache oder allgemeine Kommunikationssituationen gut geeignet ist, kann es dennoch zu unsinnigen Sätzen oder Fehlinterpretationen kommen. Eine andere Möglichkeit, die der Übersetzer hat, besteht darin, Wörter oder Ausdrücke, die unübersetzbar sind, so zu belassen, wie sie sind, das heißt, sie nicht zu übersetzen, weil es eben nicht möglich ist.
Darüber hinaus kann der Übersetzer die grammatische Kategorie eines Wortes ändern oder sich dazu entschließen, Satzstrukturen zu verbessern oder zu vereinfachen.

Der Übersetzer muss bei seiner Arbeit flexibel sein: Es gibt unendlich viele Varianten, die alle die Bedeutung des ursprünglichen Textes auf die genaueste Weise umschreiben können. Der Übersetzer arbeitet häufig im Auftrag und muss bestimmte Anweisungen befolgen. Insbesondere muss die Zielgruppe des Textes berücksichtigt werden. Der Übersetzer muss sich fragen, ob es sich um eine Übersetzung für Fachleute oder für Laien handelt. Dementsprechend kann er erklärende Anmerkungen hinzufügen, um einen Aspekt der Sprache, der Kultur usw. zu erläutern. Wenn er ein klassisches Werk für eine Jugendedition übersetzt, muss er sich an sein Publikum anpassen und sich diesem annähern. Der Übersetzer muss auf die Sprachregister des Textes achten. Es gilt auch zu berücksichtigen, dass die Besonderheiten der Quellsprache (Originaltext) mit den Anforderungen der Zielsprache (übersetzter Text) vereinbar sind. Die Übersetzung erfordert daher nicht nur eine genaue Kenntnis der Sprache, sondern auch des kulturellen Kontextes des Landes und der Zeit, zu der der Text geschrieben wurde (um jegliche Form von Anachronismus zu vermeiden). Der Übersetzer muss viele verschiedene Methoden anwenden, um den ursprünglichen Text zu respektieren.

Wie lassen sich die Wortspiele, die poetischen Ausdrücke, die Metaphern und andere Stilfiguren in einer anderen Sprache wiedergeben? Wie kann man die Rhythmen und Reime eines poetischen Textes umsetzen? Ist in diesem Fall der Klang nicht so wichtig oder gar wichtiger als die Bedeutung? Durch die Wahl, die Regelmäßigkeit des Verses exakt wiederzugeben, ist der Übersetzer mehr oder weniger verpflichtet, die Bedeutung des Textes anzupassen. Um jedoch das Risiko, die Arbeit des Autoren zu verraten, so gering wie möglich zu halten, muss er großes Feingefühl beweisen. Die Aufgabe des Übersetzers besteht darin, aus einer Vielzahl von Möglichkeiten die beste auszuwählen, um sowohl der Sprache als auch dem ursprünglichen Text gerecht zu werden. Hier ist die Übersetzung eine Schöpfung.

Aber wie lässt sich erklären, dass großartige Klassiker oft neu übersetzt werden? Warum werden einige Übersetzungen als antiquiert angesehen? Zielt das übersetzte Werk erneut darauf ab, sein Modell noch getreuer zu imitieren oder geht es darum, mit der Übersetzung selbst den Status der literarischen Schöpfung zu erreichen?

 

Amir Sohi ist 36 Jahre alt und kommt aus Teheran, der Hauptstadt des Iran. Er ist Postdoc-Absolvent der Universität British Columbia in Kanada mit dem Schwerpunkt Holzwissenschaften und arbeitet in Teheran als Dozent. Seine Deutschkenntnisse hat er sich selbst mit Hilfe von Büchern, Webseiten und im direkten Kontakt mit deutschsprachigen Menschen angeeignet.

Es ist nicht der erste Text, den Amir für den Blog geschrieben hat. Hier lest ihr alle Texte von Amir Sohi.

Ein Text aus der Reihe Deutschlerner aus aller Welt schreiben.

6 Kommentare

  1. pourya sagt

    Hallo Amir,
    ich bin seit September 2003 hier in Deutschland und habe hier studiert. Aber deine Art und Weise und wie du dein Ausdrücke zu Papier bringst, fasziniert mich.

    viel erfolg und freude
    LG
    Pourya

  2. Hallo Amir,
    Ich studiere Deutch und finde Übersetzung ein sehr faszinierendes Bereich. Dieser Artikel gefällt mir sehr, denn es betont, dass diese Prozess nicht automatisch gemacht wird, sondern man soll viele Aspekte berücksichtigen: wie die Kultur, die Zielgruppe usw. Es ist wirklich eine Schöpfung.

    Viel Erfolg,
    AS

  3. Alba Titze sagt

    Ist eigentlich nicht der Prozess des Inspirierens zwischen Künstlern eine angepasste Übertragung einer Idee über die Zeitlinie und Grenzen? Der Übersetzer besitzt eine genaue Kenntnis des kulturellen Kontextes, die wiederum von seiner persönlichen Erfahrung modelliert ist, deshalb könnte man auch sagen, dass er auch Schöpfer von neuen Ideen ist.

  4. Kalyani Madan sagt

    Hallo Amir, gratuliere dir fuer solches interessantes Schreiben. Uebersetzung ist ja immer eine komliziertes Thema gewesen und du hast alle seine Aspekte schoen dargestellt.
    Wie kann man die kulturelle Nuancen ueberhaupt uebersetzen? Manche Traditionen, Braeuchen und Ritualien sind so sehr Ort spezifisch.
    Ich komme aus Indien und daher kann ein paar Sparchen ausser meiner Muttersprache Marathi und immerwieder erfahre die Herausforderung der Uebertraging vieler Sachen von einer Sprache in die andere.
    Deine Wortwahl und Fluessigkeit gefaellt mir besonders gut.

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